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Das Stück

6. Szene Liebesgedicht


Personen:

1. Sprecher
2. Sprecher
3. Sprecher
4. Sprecher


1. Sprecher:

Halt ein! Dich beschwör ich,
Gesicht der einzigen Liebe,
bleib hell und schlag mit den Wimpern
das Auge zur Welt zu, bleib schön,
Gesicht der einzigen Liebe,
und heb deine Stirn
aus dem Wetterleuchten der Zweifel.
Deine Küsse werden sie teilen,
dich entstellen im Schlaf,
wenn du nach Spiegeln blickst,
in denen du jedem gehörst!

Ein Monolog des Fürsten Myschkin zu der Ballettpantomime "Der Idiot"
Ingeborg Bachmann, Werke (Band 1)
Piper, München 1978

2. Sprecher:

Sieh jene Kraniche in großem Bogen!

3. Sprecher:

Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen
Aus einem Leben in ein andres Leben
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.

4. Sprecher:

Dass so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen

2. Sprecher:

Dass also keines länger hier verweile
Und keines andres sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen

4. Sprecher:

So mag der Wind sie in das Nichts entführen
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
Solange kann sie beide nichts berühren
Solange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.

3. Sprecher:

So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.

2. Sprecher:

Wohin ihr?

4. Sprecher:

Nirgendhin.

2. Sprecher:

Von wem davon;

3. Sprecher:

Von allen.

4. Sprecher:

Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?

3. Sprecher:

Seit kurzem.

2. Sprecher:

Und wann werden sie sich trennen.

4. Sprecher:

Bald.

Alle 4 Sprecher:

So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.

Die Liebenden
Bertolt Brecht, Gedichte
Suhrkamp Frankfurt/Main 1975