1. Szene: Stunde Null
Personen:
1. Sprecher
2. Sprecher
7 Soldaten
1. Kind
2. Kind
3. Kind
4. Kind
5. Kind
Junge
Trümmerfrauen
1. Trümmerfrau
2. Trümmerfrau
3. Trümmerfrau
4. Trümmerfrau
5. Trümmerfrau
6. Trümmerfrau
7. Trümmerfrau
Der Boden ist schwarz. Auf der Bühne sind mehrere Deckenhaufen verteilt. Unter
einigen liegt jeweils ein Heimkehrer, unter anderen ein Kind, wieder unter anderen
liegen Trümmerfrauen.
1. Sprecher:
In der Erinnerung war das Fenster viel größer, so groß wie die Welt, die er durch das
Fenster sah, in den vielen Tagen und Nächten, die in der Erinnerung zu einem Bild
wurden, zu einer unbewegten, atemlosen Zeit, lautlose Nächte und stumme Tage, die
vergingen, wie sie erschaffen wurden, unter einer kalten Sonne, die vom Morgen bis zum
Abend die Erde mit ihrem Licht überzog, versteinerte Überreste einer versunkenen Welt
unter weiß leuchtenden Sternbildern, stumpfe Mauern, zerstörte Häuser, verschüttete
Straßen, verglühte Kirchenschiffe, die Silhouette einer untergegangenen Stadt mit ihren
schroffen Konturen im Mondlicht.
2. Sprecher:
Das Drahtgestell, das sein Bett war, schwebte fast frei in der Luft zwischen den nach
Rauch stinkenden, eingestürzten Mauern eines ehemals fünfstöckigen Mietshauses.
Geschützt durch eine Mauerecke, sah er aus dem Erdgeschoss, durch verbogene dunkle
Eisenträger und abgeknickte Gas und Wasserleitungen, senkrecht in den freigelegten
Himmel, wartete auf die Stunden der Sonne, die ungehindert durch Stockwerke und Dächer
direkt auf sein Bett schien, wartete geduldig, auch wenn es Tage und Nächte regnete und
er in seinen Kleidern nass unter der durch die Nässe immer schwerer werdenden
Pferdedecke lag.
1. Sprecher:
Die Familie, das waren einige kleine Erdhügel im Schutz der kahlen Brandmauer,
bedeckt mit dunklem Ziegelstaub und weißgrauem Mörtel, der von der Mauer herabrieselte.
Es fehlten eigentlich nur noch die Kreuze. Zuweilen bewegte sich einer dieser Hügel,
nahm eine andere Stellung ein, sackte wieder zusammen wie ein frischaufgeschüttetes
Grab. Von seinem Bett aus hörte er gedämpfte Stimmen, die aber rasch verstummten, sich
undeutlich verloren in dem offenen Raum.
"In der Erinnerung", Dieter Forte
Alle Soldaten stehen langsam nacheinander auf. Sie sprechen
gemeinsam:
Alle Soldaten:
Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel, den vor begehrlichen
Augen ich berge.
Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,
so dient es als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.
Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
Dies ist mein Notizbuch,
dies meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.
"Inventur", Günter Eich
Die Soldaten gehen in einer Kolonne von der Bühne. Sie gehen durch
die Sitzreihen der Aula.
1.Kind (noch unter der Decke):
Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
Andere:
Keiner! Keiner!
1. Kind (kommt hervor):
Und wenn er kommt?
Andere:
Dann laufen wir! Dann laufen wir!
1. Kind (lauter):
Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
Andere (kommen hervor, ein Kind setzt sich vor einen
Deckenhaufen):
Keiner! Keiner!
2. Kind:
Und wenn er kommt?
Andere:
Dann laufen wir, dann laufen wir!
Ein Kind fängt an zu malen.
3. Kind:
Das ist falsch! Hast du nie gelernt, ein richtiges Hakenkreuz zu machen?
4. Kind:
Wir haben das doch immer so gemacht!
3. Kind:
Nein, guck mal: der Balken hier oben gehört nach rechts!
1. Kind:
Wir dürfen doch gar keine Hakenkreuze mehr malen!
3. Kind:
Aber uns kann doch keiner sehen!
Der 2. Sprecher ist langsam nähergetreten und beobachtet die
Kinder.
5. Kind:
Wir haben so lange gebraucht, das zu lernen.
3. Kind:
Ich will aber weiter Hakenkreuze machen.
2. Kind:
Ich auch!
3. Kind:
Gestern hat Vater mich geschlagen, weil ich eins auf unseren Tisch gemalt habe.
Mutter hat gesagt, dass ich das nie wieder machen darf.
Der 2. Sprecher tritt auf die Kinder zu. Sie versuchen schnell und
schuldbewusst, die Hakenkreuze zu verbergen, indem sie sie verwischen oder sich auf sie
stellen. Sie starren den 2. Sprecher an.
5. Kind (Erhebt den Arm langsam zum Hitlergruß):
Heil Hit...(senkt den Arm, weil es sich daran erinnert, diese
Geste nicht mehr machen zu dürfen.)
2. Sprecher: (Guckt die Kinder ruhig an)
2. Kind:
Wer bist du?
1.Kind:
Das ist der schwarze Mann! (geht ein paar Schritte
zurück)
4. Kind:
Was machst du hier?
3. Kind:
Wir haben keine Hakenkreuze gemalt!
2.Sprecher:
Ja ja, das sagen sie alle!
5. Kind:
Warum dürfen wir denn keine Hakenkreuze mehr malen?
2. Kind:
Und warum dürfen wir nicht mehr "Heil Hitler" sagen?
3. Kind:
Hast du früher auch Hakenkreuze gemalt und "Heil Hitler" gesagt?
Die Kinder gehen in einer Gruppe von der Bühne. Der kleine Junge
vor dem Deckenhaufen kniet mit einem Stock, die Augen geschlossen. Der 2. Sprecher
kommt mit einem Korb am Arm.
2. Sprecher:
Du schläfst hier wohl was?
Junge:
Nein, ich schlafe nicht, ich muss hier aufpassen.
2. Sprecher:
Worauf passt du denn auf?
Junge:
Das kann ich nicht sagen.
2. Sprecher:
Na denn nicht, dann sage ich natürlich auch nicht, was ich hier im Korb habe.
Junge:
Pah, kann ich mir denken, Kaninchenfutter.
2. Sprecher:
Donnerwetter, ja! Wie alt bist du denn?
Junge:
Neun.
2. Sprecher:
Denk mal an, neun. Und genauso viele Kaninchen habe ich. Du kannst sie sehen,
willst du?
Junge:
Ich muss doch aufpassen!
2. Sprecher:
Immerzu? Nachts auch?
Junge:
Nachts auch. Immerzu. Seit Sonnabend schon.
2. Sprecher:
Schade, die Kaninchen hättest du ruhig mal ansehen können, aber du kannst ja
nicht weg.
Junge:
Nein.
2. Sprecher:
Schade.
Junge:
Wenn du nichts verrätst, es ist wegen der Ratten. Die essen doch von Toten.
Von Menschen, da leben sie doch von.
2. Sprecher:
Wer sagt das?
Junge:
Unser Lehrer.
2. Sprecher:
Und du passt nun auf die Ratten auf?
Junge:
Auf die doch nicht! Mein Bruder liegt nämlich da unten. Unser Haus kriegte eine
Bombe. Mit einem Mal war das Licht weg im Keller. Und er auch. Wir haben noch gerufen.
Er war viel kleiner als ich. Erst vier. Er muss ja hier noch sein, er ist doch viel
kleiner als ich.
2. Sprecher:
Ja, hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt, dass die Ratten nachts schlafen?
Junge:
Nein das hat er nicht gesagt.
2. Sprecher:
Na, das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. Nachts schlafen die Ratten
doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer. Wenn es dunkel
wird, schon.
Pause
Weißt du was? Jetzt füttere ich schnell meine Kaninchen und wenn es dunkel wird,
hole ich dich ab. Aber du musst hier solange warten, ich gehe dann mit dir nach
Hause.
Junge:
Ja, ich warte. Ich muss ja aufpassen, bis es dunkel wird. Ich warte bestimmt.
Der 2. Sprecher geht langsam ab. Der Junge bleibt sitzen.
Es kommen langsam nach und nach die Trümmerfrauen aus den Decken
hervor.
Trümmerfrauen:
Deutschland, Deutschland
Keines Falles, keines Falles in der Welt.
Von der Burg bis an die Neiße
Alles, alles keines Falles
von der Isar bis zum Belt
Deutschland, Deutschland
Keines Falles, keines Falles in der Welt.
"Die Amnestierten"
Pause, die Trümmerfrauen gehen diversen Beschäftigungen nach.
1. Trümmerfrau:
Dann ging das los hier in der Prinzenstraße mit dem Aufräumen. Wir mussten die Steine
wegräumen, und das hat mich geärgert. Und ich habe aus dem Fenster gerufen: "Holt Euch
doch die Nazifrauen, lasst mir meine Ruhe!" Aber mir ist dann doch nichts anderes
übriggeblieben, denn ich hatte ja keinen Pfennig Geld mehr. Ich musste ja Geld
verdienen, und da hab' ich doch Steine geklopft. Was die für das Steineklopfen bezahlt
haben, das waren pro Stunde 57 Pfennige, die erste Zeit. Hinterher gab es 61
Pfennige.
"Wie wir das alles geschafft haben", Sibylle Meyer, Eva Schulze (Hrsg.)
"Holt Euch die Nazifrauen", Klara Steiner
2.Trümmerfrau:
Bevor ich noch gefrühstückt hatte, rief Frau Mietusch: "Es gibt Haferflocken" - und
ich raste mit meinem Eimer die Treppe hinunter, kam aber wie immer zu spät. Sich
balgende und beschimpfende Frauen um einen Wehrmacht-LKW. Ich sah indessen an der
Straßenecke eine Frau mit einem großen Stück Fleisch, fragte, woher das komme. Nun hieß
es, da vorne gibt's Pferdefleisch. Ich dachte, es wird verteilt, rannte und fand ein
halbes Pferd auf dem Trottoir, und drum herum Männer und Frauen mit Messern und Beilen,
die sich Stücke lossäbelten. Ich zog also mein Taschenmesser, eroberte mir einen Platz
und säbelte auch. Einfach war's nicht.
"Unsere verlorenen Jahre, Frauenalltag in Kriegs- und Nachkriegszeit"
3.Trümmerfrau:
Ich war ein kleines Mädchen
In einem großen Haus,
Dann ist der Krieg gekommen,
Da bombten sie uns aus.
4. Trümmerfrau:
Wir kriegten ein kleines Zimmer,
Eine Küche war auch dabei;
Sie bombten aber noch immer,
Da ging auch das entzwei.
5. Trümmerfrau:
Erst hab ich geweint und geschrieen
Wie die Sirenen so schrill,
Doch um mich schrieen so viele,
Da wurde ich langsam still.
Still bin ich nun auch geblieben
Da Frieden kam ins Land,
Ich wurde herumgetrieben,
Mein Köfferchen in der Hand.
6. Trümmerfrau:
Das habe ich auch noch verloren
Nun bin ich schon sechzehn Jahr
Und weiß kaum, wo ich geboren
Und wo ich zuhause war.
"Trümmerlyrik", Gustav Zürder
Die Trümmerfrauen wenden sich dem Publikum zu und halten Bilder von
ihren Ehemännern hoch.
Eine Trümmerfrau:
In den letzten dreißig Wochen
zog ich sehr durch Wald und Feld.
Und mein Hemd ist so durchbrochen,
dass man's kaum für möglich hält.
Ich trag Schuhe ohne Sohlen,
und der Rucksack ist mein Schrank.
Meine Möbel hab'n die Polen
und mein Geld die Dresdner Bank.
Ohne Heimat und Verwandte,
und die Stiefel ohne Glanz,
ja, das wär nun der bekannte
Untergang des Abendlands
Links, zwei, drei, vier,
links, zwei, drei -
Hin ist hin! Was ich habe, ist allenfalls:
links, zwei, drei, vier,
links, zwei, drei -
Ich habe den Kopf, ich hab ja den Kopf
noch fest auf dem Hals.
Ich trage Schuhe ohne Sohlen.
Durch die Hose pfeift der Wind.
Doch mich soll der Teufel holen,
wenn ich nicht nach Hause find.
In den Fenstern, die im Finstern
lagen, zwinkert wieder Licht,
Freilich nicht in allen Häusern.
Nein, in allen wirklich nicht...
Tausend Jahre sind vergangen
samt der Schnurrbart Majestät.
Und nun heißt's: Von vorn anfangen!
Vorwärts marsch! Sonst wird's zu spät!
Links, zwei, drei, vier,
links, zwei, drei -
Vorwärts marsch, von der Memel bis zur Pfalz!
Links, zwei, drei, vier,
links, zwei, drei -
Denn wir haben ja den Kopf, denn wir haben ja den Kopf
noch fest auf dem Hals!
"Marschlied 1945", Erich Kästner
Junge ab. Die Trümmerfrauen bleiben auf der Bühne.
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