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Das Stück

1. Szene Wirtschaftswunder


Personen:

Wunsiedel
Double
Broschek
Sekretärin
Drei weitere Sekretärinnen
Erzähler


Personen treten auf.

Alle: MP3

Die Straßen haben Einsamkeitsgefühle
Und Bretter liefert nicht mehr die Fabrik
Nur ab und zu mal klappert eine Mühle
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg
Aus Pappe und aus Holz sind die Gardienen
Den Zaun bedeckt ein Zettelmosaik
Wer rauchen will der muss sich selbst bedienen
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg

Erst waren wir mal frei
Nun sind wir besetzt
Das Land ist entzwei
Was machen wir jetzt?

Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt gibt´s im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Der deutsche Bauch erholt sich auch und ist schon sehr viel runder
Jetzt schmeckt das Eis bald wieder in Aspik
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg

Man muss beim Autofahren nicht mehr an Brennstoff sparen
Wer Sorgen hat hat auch Likör und gleich in hellen Scharen
Die Läden offenbaren uns wieder Luxuswaren
Die ersten Nazis schreiben fleißig ihre Memoiren
Denn den Verlegern fehlt es an Kritik
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg

Wenn wir auch ein armes Land sind
Und so ziemlich abgebrannt sind
Zeigen wir dass wir imposant sind
Weil wir etwas überspannt sind
Wieder haun wir auf die Pauke
Wir leben hoch hoch hoch hoch hoch hoch hoch

Das ist das Wirtschaftswunder
Das ist das Wirtschaftswunder

Zwar gibt es Leut die heut noch zwischen Dreck und Plunder
Doch für die Naziknaben die das verschuldet haben
Hat der Staat viel Geld parat uns spendet Monatsgaben
Wir sind ne ungelernte Republik
Ist ja kein Wunder ist ja kein Wunder
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg

Kabarett 46-49 Folge 1 Nr. 12

Zwei Schreibtische. Hinter einem sitzt Wunsiedel, der Chef. Die Sekretärinnen sitzen auf Stühlen und haben ihre Schreibmaschinen auf dem Schoß.

Erzähler:

Zu den merkwürdigsten Abschnitten meines Lebens gehört wohl der, den ich als Angestellter in Alfred Wunsiedels Fabrik zubrachte. Von Natur bin ich mehr dem Nachdenken und dem Nichtstun zugeneigt als der Arbeit, doch hin und wieder zwingen mich anhaltende finanzielle Schwierigkeiten eine sogenannte Stelle einzunehmen.

Das Double des Ich-Erzählers geht auf den Chef zu. Sie begrüßen und setzen sich.

Wunsiedel:

Halten Sie es für richtig, dass der Mensch nur zwei Arme, zwei Beine, Augen und Ohren hat?

Double:

Selbst vier Arme, Beine, Ohren würden meinem Tatendrang nicht genügen. Die Ausstattung des Menschen ist kümmerlich.

Wunsiedel:

Wie viele Telefone können Sie gleichzeitig bedienen?

Double:

Wenn es nur sieben Telefone sind, werde ich ungeduldig, erst bei neun fühle ich mich vollkommen ausgelastet.

Wunsiedel:

Was machen Sie nach Feierabend?

Double:

Ich kenne das Wort Feierabend nicht mehr - an meinem 15. Geburtstag strich ich es aus meinem Vokabular, denn am Anfang war die Tat.

Wunsiedel in den Hintergrund der Bühne, von seinem Schreibtisch fort.

Erzähler:

Ich bekam die Stelle. Tatsächlich fühlte ich mich sogar mit den neun Telefonen nicht ganz ausgelastet. Ich rief in die Muscheln der Hörer:

Double:

Handeln Sie sofort!

Erzähler:

Oder...

Double:

Tun Sie etwas - Es muss etwa geschehen - Es wird etwas geschehen - Es ist etwas geschehen, es sollte etwas geschehen.

Das Licht geht auf Broschek. Das Double geht zu Broschek. Beim folgenden Einsatz des Erzählers macht Broschek pantomimisch mit.

Erzähler:

Wunsiedels Stellvertreter war ein Mann mit Namen Broschek, der seinerseits einen gewissen Ruhm erworben hatte, weil er als Student sieben Kinder und eine gelähmte Frau durch Nachtarbeit ernährt, zugleich vier Handelsvertretungen erfolgreich ausgeübt und dennoch innerhalb von zwei Jahren zwei Staatsprüfungen mit Auszeichnung bestanden hatte.

Double:

Wann schlafen Sie denn, Broschek?

Broschek:

Schlafen ist Sünde!

Während des folgenden Einsatzes machen die Sekretärin und Wunsiedel pantomimisch mit und das Double geht an seinen Schreibtisch.

Erzähler:

Wunsiedels Sekretärin hatte einen gelähmten Mann und vier Kinder durch Stricken ernährt, hatte gleichzeitig in Psychologie und Heimatkunde promoviert, Schäferhunde gezüchtet und war als Barsängerin unter dem Namen "Vamp 7" berühmt geworden. Wunsiedel selbst war einer von den Leuten, die morgens, kaum erwacht, schon entschlossen sind, zu handeln. "Ich muss handeln", denken sie, während sie energisch den Gürtel des Bademantels zuschnüren. "Ich muss handeln", denken sie, während sie sich rasieren, und sie blicken triumphierend auf die Barthaare, die sie mit dem Seifenschaum von ihrem Rasierapparat abspülen: Diese Reste der Behaarung sind die ersten Opfer ihres Tatendranges. Die belangloseste Tätigkeit sah bei Wunsiedel wie eine Handlung aus: wie er den Hut aufsetzte, wie er bebend vor Energie den Mantel zuknöpfte, der Kuss, den er seiner Frau gab, alles war Tat.

Wunsiedel geht zur Sekretärin.

Wenn er sein Büro betrat, rief er seiner Sekretärin als Gruß zu:

Wunsiedel:

Es muss etwas geschehen!

Sekretärin (frohen Mutes):

Es wird etwas geschehen.

Erzähler:

Wunsiedel ging dann von Abteilung zu Abteilung, rief sein fröhliches:

Wunsiedel (von Sekretärin zu Sekretärin):

Es muss etwas geschehen!

Alle:

Es wird etwas geschehen!

(singend)

Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt gibt´s im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Der deutsche Bauch erholt sich auch und ist schon sehr viel runder
Jetzt schmeckt das Eis bald wieder in Aspik
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg

Kabarett 46-49 Folge 1 Nr. 12

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